Kyudo — Der Weg des Bogens

Absolute Stille herrscht im Dojo, der Übungshalle. Die Kyudo-Schüler haben sich bereits versammelt und sitzen wie an einer Perlenschnur aufgereiht auf dem Boden, um dem, was hier gleich geschehen soll, aufmerksam und gespannt folgen zu können. Das große Tor der Halle ist weit geöffnet und die angenehme Kühle dieses Sommermorgen strömt herein. Über eine akkurat gepflegte Rasenfläche hinweg fällt der Blick auf einen Sandhügel, an dem eine kleine Zielscheibe befestigt ist.

 

Der Meister bereitet sich vor, sitzt hinten in der Halle am Boden und legt sorgfältig seinen Schießhandschuh an. Er strahlt große Ruhe aus. Ein kurzes Innehalten und dann erhebt er sich, zieht zwei Pfeile aus dem Köcher und greift nach seinem Bogen.

 

Sowohl Meister als auch Schüler sammeln sich innerlich noch einmal. Zwei Schritte, eine Verbeugung – der Meister beginnt seine Zeremonie. Würdevoll durchmisst er den Raum, wobei die Blicke seiner Schüler an ihm haften. Genau und präzise folgen seine Bewegungen der althergebrachten Tradition und führen ihn zum Abschussplatz. Er richtet sich aus, den Blick zum Ziel gewandt. Alles ist über Jahrzehnte verinnerlicht, nichts dem Zufall überlassen. Jede Bewegung wird von ihm so ausgeführt, dass nichts daran zu viel ist. Es fließt alles nahtlos ineinander. Wieder sammelt er sich, den Bogen auf dem linken Knie ruhend, die rechte Hand in der Körpermitte unterhalb des Nabels die Atmung kontrollierend. Langsam schwenkt er den Bogen, der mit der unteren Spitze noch immer auf dem Knie ruht, zur Körpermitte. Die rechte Hand mit dem Handschuh strebt zur gleichen Zeit zur Bogensehne, gleitet an dieser hoch, zu der Position, an der schon der eingelegte Pfeil seinen Platz gefunden hat.

 

Nichts stört die große Ruhe des Augenblicks. Sein Blick wandert zur Zielscheibe, er hebt den Bogen weit über den Kopf und in einer großen runden Bewegung beginnt er ihn zu öffnen und zu spannen. Auf Höhe der Augenbrauen ein kurzes Innehalten, bevor er ihn maximal spannt, das Ziel fest im Blick. Es scheint, als würde er für kurze Momente ausharren, doch wächst die Kraft und die Spannung in ihm und dem Bogen weiter, bis der Schuss sich kraftvoll von der Sehne löst. Der Pfeil schießt los. Sein Blick folgt dem Pfeil. Ein kurzer scharfer Knall und er hat sein Ziel erreicht. Erst jetzt löst sich auch die Spannung im Körper des Meisters und seine Augen lösen sich vom Ziel. Er nimmt den Bogen zurück und legt den zweiten Pfeil an. Mit der gleichen Konzentration und Aufmerksamkeit fliegt auch dieser Pfeil und trifft ins Schwarze. Der Meister verneigt sich Richtung Ziel, geht drei Schritte rückwärts und verläßt die Zeremoniefläche, immer noch von den achtsamen Blicken seiner Schüler gefolgt. Diesen hat er an seinem Beispiel gezeigt, was es zu üben gilt und wohin sie der Weg des Kyudo führen kann. Mit diesem Bild vor Augen üben seine Schüler an diesem Tag.

 


Marion Moritz | Unterdorf 25 |  78628 Rottweil | e-Mail: mail@marion-moritz.de